Themen
Wer sind »wir«, wer sind »die anderen«?
Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert, sie ist vielfältiger geworden. Das sollte sich in der Berichterstattung wiederfinden. Gleichzeitig müssen Journalist*innen oft vereinfachen, um komplizierte Sachverhalte kurz und verständlich darzustellen. Manchmal führt das zu einem Dilemma: Wie beschreibe ich die Gruppe, der jemand angehört? Wie beschreibe ich die anderen? Und wo ist diese Trennung wirklich nötig?
Zunächst ist es sinnvoll, die Protagonist*innen zu fragen, wie sie sich selbst nennen würden. Das ist allerdings nicht immer möglich. Zudem kann man bei der Beschreibung von Gruppen nicht davon ausgehen, dass alle dieselbe Präferenz haben.
Bei einer allgemeinen Bezeichnung für Eingewanderte und ihre Nachkommen läuft man Gefahr, das Bild einer homogenen Gruppe zu erzeugen. Menschen mit Migrationsgeschichte sind jedoch keineswegs homogen: Aussiedler*innen haben in der Regel mit Geflüchteten aus dem Libanon so wenig gemeinsam wie kemalistische Türk*innen mit kurdischen Feminist*innen. Und auch die genannten Gruppen selbst sind heterogen. Dennoch kann es in der Berichterstattung manchmal nötig sein, eine Gruppe pauschal zu benennen. Die vorliegenden Erläuterungen dienen der Präzisierung von Begriffen und bieten praktische Vorschläge für die differenzierte Bezeichnung von Minderheiten, der Mehrheit und natürlich auch von beiden.
» Begriffe zum Thema “WIR” UND “DIE ANDEREN”
Migration
Debatten um die deutsche Einwanderungsgesellschaft haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Die Begriffe, die wir dabei benutzen, und ihre Bedeutung wandeln sich im Laufe der Zeit. So war »Migration« ursprünglich ein Wort aus der Zoologie1. Zum Teil verändert auch die Gesetzgebung unsere Sprache: Nach der Staatsangehörigkeitsreform von 2000 ist deutsche*r Staatsbürger*in, wer hier geboren ist, nicht mehr nur, wer von Deutschen abstammt.
Im Folgenden werden alte und neue Begriffe und Regelungen im Einwanderungsland Deutschland erläutert. Wo es möglich oder nötig ist, werden alternative Formulierungen angeboten, um eine unbewusst negative Konnotation der Sprache in der Berichterstattung zu vermeiden.
» Begriffe zum Thema MIGRATION
Kriminalitätsberichterstattung2
Die Berichterstattung über Straftaten nimmt in den meisten Medien viel Raum ein. Dabei herrscht immer noch das Vorurteil, Geflüchtete oder Eingewanderte würden häufiger straffällig als weiße Deutsche und ihre Herkunft hätte ursächlich damit zu tun. Die folgenden Erläuterungen und Empfehlungen sollen dazu beitragen, differenziert über Straftaten zu berichten.
» Begriffe zum Thema KRIMINALITÄT
Juden*Jüdinnen
Vor der Machtübertragung an die Nationalsozialist*innen lebten etwa 500.000 bis 600.000 jüdische Bürger*innen in Deutschland – derzeit wird die jüdische Bevölkerung in Deutschland auf 250.000 Personen geschätzt.3 Unabhängig davon ist Antisemitismus auch heute noch in allen Bevölkerungsgruppen präsent, wie zahlreiche Studien4 regelmäßig belegen. Während allerdings der rassistische Antisemitismus und der Antijudaismus kaum noch anschlussfähig an die Mehrheitsbevölkerung sind, dominieren mit dem israelbezogenen Antisemitismus und antisemitischen Verschwörungsideologien »moderne« Formen der Judenfeindschaft, die im Folgenden ebenfalls erläutert werden.
Insgesamt gilt auch hier festzuhalten: Es gibt nicht »die Juden«. Der jüdischen Minderheit gehören vielfältige Menschen mit individuellen Lebensentwürfen und unterschiedlichen Auslegungen des eigenen Judentums an. Ein einheitliches Gruppenbild zu schaffen, kann nicht gelingen. Präzise Bezeichnungen und Begriffe in der Berichterstattung können aber hilfreich sein, damit ein differenzierteres Bild in den Medien entsteht.
» Begriffe zum Thema JUDEN*JÜDINNEN
Muslim*innen
Wer genau sind eigentlich »die Muslime«? Und gibt es »den Islam« überhaupt? Tatsächlich ist das Themenfeld viel komplexer als es oft wahrgenommen wird. Da der Islam keine feste, formalisierte Struktur hat, lassen sich nur schwer genaue Zahlen über den Anteil der muslimischen Bevölkerung in der deutschen Gesellschaft erheben5. Die offizielle Angabe von 5,3 bis 5,6 Millionen6 muslimischen Einwohner*innen in Deutschland ist beispielsweise eine Hochrechnung. In jedem Fall aber steht fest: Die Mehrheit der eingewanderten Menschen in Deutschland kommt nicht aus islamischen Ländern, sondern aus christlich geprägten. Trotzdem werden Berichte über Integrationsthemen häufig unreflektiert mit Islamdebatten verknüpft. Geht es um Religionsfragen von Eingewanderten, steht ebenfalls meist nur »der Islam« im Fokus. Diese Verengung betrachten Kritiker*innen als problematisch. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, mit den gängigen Begriffen zum Thema Islam vertraut zu sein.
» Begriffe zum Thema MUSLIM*INNEN
Schwarze Menschen
Schwarze Menschen sind eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Interessen, Ansichten und Familiengeschichten. Seit 400 Jahren leben sie in Deutschland, dennoch werden sie ausgegrenzt, ihnen wird ihr Deutschsein abgesprochen, ihre Perspektiven und Existenz werden meistens ignoriert und sie erleben psychische und physische Gewalt. Ende der 1980er Jahre wurden afrodeutsche Perspektiven in der Öffentlichkeit sichtbarer. Trotzdem orientieren sich Schwarze Diskurse in Deutschland oft noch an Debatten in den USA. Deshalb werden viele englische Begriffe auch im deutschen Diskurs verwendet. Eine wortwörtliche Übersetzung ist teilweise nicht möglich oder falsch, weil US-amerikanische Verhältnisse oder Entwicklungen nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar sind. Anti-Schwarzer Rassismus, seine Mechanismen und seine Struktur sind komplex. Dieses Kapitel wurde aus Schwarzer Perspektive geschrieben, ist aber angesichts der Heterogenität der Erfahrungen und Perspektiven der Schwarzen Community nicht allgemeingültig für alle Schwarzen Perspektiven.
» Begriffe zum Thema SCHWARZE MENSCHEN
Sinti*zze und Rom*nja
Mit etwa zehn bis zwölf Millionen Mitgliedern sind die Angehörigen der verschiedenen Roma-Gruppen heute eine sehr große und damit sehr diverse Minderheit in Europa. Diese ist wie kaum eine andere Ziel rassistischer Zuschreibungen und Stereotypisierungen. Damit einher geht eine große Unwissenheit: So berichten Vertreter*innen von Roma-Vereinen, dass sie beispielsweise immer wieder gefragt werden, ob es eine eigene »Roma-Religion« gebe.
Auch die Berichterstattung in den deutschen Medien über Sinti*zze und Rom*nja ist häufig negativ konnotiert, wie mehrere Studien7 belegen. Hier kann kenntnisreicher und präziser Journalismus aufklärend wirken. Deshalb werden im vorliegenden Glossarkapitel bewusst auch Begriffe erläutert, die zur Stigmatisierung beitragen (bspw. »Z***«) und Journalist*innen bei der Recherche begegnen können.
» Begriffe zum Thema SINTI*ZZE UND ROM*NJA
Flucht und Asyl
Asylpolitik war eines der beherrschenden Medienthemen der vergangenen Jahre. Weil Regelungen und Vorhaben sich zurzeit laufend ändern, versuchen wir im Folgenden, vor allem längerfristig gültige Begriffserläuterungen anzubieten.
Generell sind Asylrecht und -politik sehr komplexe Themen, bei denen in der Berichterstattung einiges durcheinandergeraten kann. Was zum Beispiel ist der rechtliche Unterschied zwischen Asyl und Flüchtlingsschutz? Zudem ist der Themenkomplex emotional aufgeladen: In vielen Begriffen schwingen politische Haltungen oder Forderungen mit. Im Glossar erläutern wir die Hintergründe und warum es zum Beispiel sinnvoll ist, angeblich neutrale Schlagwörter wie »Flüchtlingskrise« zu überdenken.
» Begriffe zum Thema FLUCHT UND ASYL
Hate Speech und Desinformationen
Politische Fragen und Meinungen werden zu einem großen Teil online verhandelt. Das Internet wird dabei zunehmend von menschenfeindlichen Positionen und Akteur*innen dominiert, die sich die Vernetzungsmöglichkeiten strategisch zunutze machen. Hate Speech und Desinformation kursieren in sozialen Netzwerken und sind ein ernstzunehmendes Problem8 9. Das Internet birgt aber auch eine Chance, die pluralistische Gesellschaft zu stärken, marginalisierte Personen zu empowern und demokratische Positionen voranzubringen. Welche Begriffe und Phänomene im Netzdiskurs wichtig sind, haben wir in diesem Kapitel zusammengefasst.
» Begriffe zum Thema HATE SPEECH UND DESINFORMATIONEN
Rechtspopulismus, Rechtsradikale und -extreme
Populist*innen machen sich die klassischen Mechanismen des Journalismus zunutze, indem sie sprachliche Tabus brechen – allein die Berichterstattung darüber dient ihren Zwecken. Wenn Medienschaffende vermeiden wollen, sich instrumentalisieren zu lassen, sollten sie rassistische oder demokratiefeindliche Sprache als solche benennen, falls sie in Berichten wiedergegeben werden muss.
Im Folgenden werden deshalb Begriffe aufgeführt, die dazu dienen, strukturell benachteiligte Gruppen herabzuwürdigen, aber auch, um verfassungsfeindliche Einstellungen zu verschleiern und salonfähig zu machen. Die zugehörigen Erläuterungen und alternativen Vorschläge sind als Hilfestellung und Impulse für alle gedacht, die ihrem journalistischen Auftrag für aufklärende und kritische Berichterstattung gerecht werden wollen.
» Begriffe zum Thema RECHTSPOPULISMUS, RECHTSRADIKALE UND -EXTREME
- Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bibliographisches Institut Leipzig und Wien, 1906
- Teile der Erläuterungen im Glossar zur Kriminalitätsberichterstattung sind dem Beitrag entnommen »… denn sie wissen nicht, was sie tun. Wie Journalismus die Integrationsdebatte beeinflusst«, Konstantina Vassiliou-Enz, in »Vielfältiges Deutschland«, Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), 2014
- Berman Jewish Data Bank, »World Jewish Population, 2020«, Seite 73f.
- Vgl. exemplarisch Ulrich, Peter/Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar: »Judenfeindschaften – Alte Vorurteile und moderner Antisemitismus«, in: Friedrich-Ebert-Stiftung/ Melzer, Ralf (Hrsg.): »Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012«, S. 68ff., Bonn, 2012, PewResearchCenter: »Latest Trends in Religious Restrictions and Hostilities«, 2015 und Deutscher Bundestag: »Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen«, Berlin, 2018
- Vgl. Katrin Pfündel, Anja Stichs, Kerstin Tanis: Muslimisches Leben in Deutschland. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2021, S. 30
- Vgl. Katrin Pfündel, Anja Stichs, Kerstin Tanis: Muslimisches Leben in Deutschland. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2021, S. 37
- Vgl. exemplarisch Markus End: »Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategie und Mechanismen medialer Kommunikation«, Studie für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 2014
- Campact: Hass im Netz bedroht Meinungsvielfalt und Demokratie bundesweit. 2019
- Das NETTZ, Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur, HateAid und Neue deutsche Medienmacher*innen als Teil des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz: Lauter Hass – leiser Rückzug. Wie Hass im Netz den demokratischen Diskurs bedroht. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. 2024